Vom Gaspreis über Merit Order und Redispatch zum Strompreis
17. November 2022, - Engineering & Services
Seit einem Jahr wird Gas immer teurer, auch der Strompreis in Europa steigt deutlich. Hängen diese Preise zusammen und welche Rolle spielt dabei welches Kraftwerk?
Gasmangel. Warum steigt der Strompreis überhaupt?
Da in Deutschland, wie auch weltweit, Strom überwiegend durch den Einsatz von fossilen Energieträgern gewonnen wird, hängt der Preis für die Kilowattstunde natürlich auch vom Grundpreis von Gas, Kohle, Öl und in gewissem Maß auch von Uran ab. Steigen die Preise der fossilen Energieträger, steigt auch der Strompreis.
Wie haben sich die Energiepreise bislang entwickelt?
Die Sorge um eine Verknappung der Gaslieferungen aus Russland hat die Gaspreise nicht nur in Deutschland immer weiter in die Höhe getrieben. Kraftwerke zahlten im Juni 2022 für Erdgas knapp 227,0 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Gasrechnungen vieler Endverbrauchenden haben sich verdreifacht. Neben diesen rasanten Anstiegen der Preise im Gasmarkt sind gleichzeitig auch die Strompreise gestiegen. Innerhalb eines Jahres hat sich zum Beispiel der Strompreis an der Leipziger Strombörse European Power Exchange (EEX) um das 10-fache erhöht (Stand: August 2022) – von 50 auf 565 Euro pro MWh. Dies wirkt natürlich auch auf die Verbraucherinnen und Verbraucher zurück: Der Strompreis lag bei Neuverträgen Mitte November 2022, bei einem Verbrauch von 4.000 kWh inkl. Grundgebühr, bei 0,427 Euro pro kWh – Tendenz ungewiss.
Und was ist mit Strom aus Erneuerbaren Energien?
Strom aus Erneuerbaren Energien ist die mit Abstand günstigste Art der Stromgestehung. Sind Windkraft- oder Solar-Anlagen erstmal gebaut, verbrauchen sie für die direkte Stromproduktion fast keine Ressourcen. Allerdings liefern sie nicht kontinuierlich Strom. Damit ist die Energie aus diesen Quellen zwar günstig, aber ohne große Speicher und gut ausgebaute Stromnetze nicht konstant überall verfügbar. Sinkt denn der Strompreis, wenn mehr Strom aus Erneuerbaren eingespeist wird? Nein, so einfach ist es leider nicht. Denn der Strommarkt funktioniert nach dem Prinzip der „Merit Order“.
Definition: Merit-Order
Die Merit-Order ist die Einsatzreihenfolge der Kraftwerke, die durch die variablen Stromgestehungskosten bestimmt wird. Dabei werden zuerst die günstigsten Kraftwerke zur Deckung der Nachfrage aufgeschaltet, das letzte Kraftwerk mit den höchsten Grenzkosten, das zur Deckung der Nachfrage benötigt wird, bestimmt den Preis. Die Merit-Order (zu Deutsch „Reihenfolge der Vorteilhaftigkeit“) bestimmt damit den Strompreis an den Energiemärkten.
Dies bedeutet vereinfacht: Alle Kraftwerke bieten ihre Produktionskapazitäten an, bis genügend Strom in Europa produziert wird, um den Bedarf zu decken. Dabei wird allerdings nicht in der Art der Erzeugung unterschieden: Alle Anbieter erhalten denselben Preis, bestimmt durch das teuerste Kraftwerk am Netz. Bei dem Merit Order Prinzip spielt es beispielweise überhaupt keine Rolle, wie günstig der regenerative Strom gewonnen wurde. Auch die Subventionen für den Ausbau der regenerativen Energien zählen nicht.
So reicht zurzeit ein einziges Gaskraftwerk am Netz, um den Preis für die Kilowattstunde Strom stark zu erhöhen, ungeachtet der niedrigen Kosten anderer Energieträger bzw. „Kraftwerke“ zu diesem Zeitpunkt.
Warum gibt es eine „Merit Order“?
Auf einem herkömmlichen Markt würden Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen – bis zu dem Zeitpunkt an dem ein Produkt nicht mehr verfügbar ist. Als Folge wären Gaskraftwerke dann aber fast nie in Betrieb, da ein kostendeckender Betrieb nicht garantiert ist. Über die „Merit Order“ wird dies so ausgeglichen, dass immer genügend Strom bedarfsgerecht zur Verfügung steht und die Netze stabil bleiben.
Dabei bietet jeder Erzeuger seinen Strom so an, dass seine Kosten (Grenzkosten) gedeckt sind. Zum Zuge kommen dann sukzessive alle Angebote, bis die Nachfrage gedeckt ist – das teuerste zum Einsatz kommende Kraftwerk bestimmt dann den Preis für alle. Dieses Kraftwerk deckt nur seine Grenzkosten, alle anderen erzielen Gewinne. Der entstandene Preis wird Grenzpreis genannt.
Die Grenzkosten sind die Kosten, die anfallen, um die nächste Ware oder in diesem Fall die nächste Megawattstunde zu erzeugen. Investitions- oder Kapitalkosten sind nicht enthalten, dafür aber beispielsweise die Brennstoffkosten.
Auf dem Energiemarkt gilt generell, dass das „Produkt“ Strom nicht „ausverkauft“ sein darf, da sonst die Energieversorgung gestört werden kann und es im schlimmsten Fall zu einem lokalen oder flächendeckenden Blackout kommen könnte.
Wer hat das Prinzip der Merit Order erfunden?
„Der Grenzpreis (gefunden durch die Merit Order) ist keine künstliche Regel, die sich jemand ausgedacht hat“, führt Lion Hirth in der Stuttgarter Zeitung aus. Lion Hirth ist Juniorprofessor für Energiepolitik an der privaten Hochschule Hertie School in Berlin und Geschäftsführer des energiewirtschaftlichen Beratungsunternehmens Neon. „Es ist keine willkürliche Wahl zwischen alternativen Marktdesigns, sondern der natürliche Weg, wie sich Preise auf freien Märkten bilden“, führt er im Weiteren aus. Auch andere Rohstoffmärkte funktionierten nach diesem Prinzip – „egal ob Öl, Gas, Kupfer, Milch oder Solaranlagen“, so der Energieexperte.
Was passiert zurzeit?
Aktuell treffen mehrere Entwicklungen zusammen: Zum einen fällt derzeit in Frankreich etwa die Hälfte der 56 Kernkraftwerke wegen Wartungsarbeiten oder technischer Mängel aus. Zum zweiten behindert der niedrige Wasserstand der Flüsse die Kohleversorgung der Kohlekraftwerke. Und zum dritten ist der Gaspreis auf einem hohen Niveau und beeinflusst, wie oben beschrieben, die Stromgestehungskosten.
Reichen denn Kohle, Kernkraft und Erneuerbare Energien nicht aus?
Leider nicht. Das liegt zum einen daran, dass die heutigen Kapazitäten von Wasser- und Windkraft sowie Photovoltaik weder in Deutschland noch in Europa insgesamt ausreichen, um den gesamten Strombedarf zu decken. Hinzu kommt, dass wie oben beschrieben, viele konventionelle Kraftwerke derzeit abgeschaltet oder nur eingeschränkt betreibbar sind.
Darüber hinaus fehlt es an Übertragungsnetzkapazitäten über ganz Europa hinweg. So können oft die Strommengen, die zum Beispiel an der windreichen Nordseeküste in Deutschland anfallen, nicht in den energiehungrigen Süden Deutschlands transportiert werden. Die Bundesnetzagentur reagiert bei einem solchen Flaschenhals dann mit einem „Redispatch“: Dabei wird im Norden die Leistung von Windenergieanlagen reduziert und im Süden wird die Leistungsanforderung der Kraftwerke erhöht, so dass eine Überlastung des Stromnetzes vermieden wird. Häufig kommen hierbei Gaskraftwerke zum Einsatz, die ihre Stromproduktion besonders flexibel und schnell anpassen können. Auch das hat natürlich zusätzliche Auswirkungen auf den Strompreis.
Handlungsoptionen und Risiken
Der erhöhte Gaspreis, im Wesentlichen verursacht durch den Krieg der Ukraine, treibt auch die Strompreise in die Höhe. Da Strom in die Preisgestaltung vieler anderer Produkte bis hin zum Frühstücksbrötchen einfließt, heizt dies die Inflation gehörig an. Seit Wochen wird vielfältig diskutiert, wie dem Preisauftrieb Einhalt geboten werden könnte.
„Eine Diskussion über eine Umverteilung von Gewinnen und eine Entlastung der Verbraucher, die aber Einsparanreize erhält, also kein einfacher Preisdeckel ist, halte ich für den Weg, den man kurzfristig beschreiten kann“, sagt Christoph Maurer, Geschäftsführer der Aachener energiewirtschaftlichen Beratungsfirma Consentec. Eine grundsätzliche Änderung des Marktdesigns sollte man aber auf keinen Fall kurzfristig beschließen, warnt er. „Das Risiko, dass man dann zu nicht durchdachten Lösungen kommt und die Krise möglicherweise sogar verstärkt, ist sehr groß“, so der Energieexperte Maurer in der Stuttgarter Zeitung.
Quellen: Die Zeitschriften: „Zeit, Standard und Stuttgarter Zeitung“, die Fachzeitschrift „Chip“, Wikipedia und eigene Recherchen